Ein Mord zwischen Vertrauen, Verrat und verbotener Nähe.
Wie ein Haus zum Rückzugsort für ein ganzes Leben wird.
Was passiert, wenn du du selbst sein willst – aber nicht darfst?
So früh am Tag hätte ich erwartet, den Laden für mich allein zu haben. Wie eine Kirche an einem Dienstag – niemand da außer man selbst und Gott (oder in diesem Fall der Barkeeper).
Aber in einer der Nischen hinten sitzen ein Typ und ein Mädchen, vielleicht noch Schüler, jedenfalls höchstens zwanzig. Sie bemühen sich, leise zu sprechen, doch ihm gelingt es nicht. Er wird wütend. Es geht offenbar um Dackel. Schon seltsam, worüber sich die Leute so streiten.
Er schlägt mit der Faust auf den Tisch, und sie weint leise. Ich seufze und merke, dass ich aufstehen will. Dabei muss ich mich gar nicht mehr einmischen. Verdammt, niemand will, dass ich das noch tue. Deshalb haben sie mich ja auch gefeuert. Aber manche Gewohnheiten legt man nicht so leicht ab.
Also kippe ich den Rest meines Martinis runter, gebe dem Barkeeper ein Zeichen, mir noch einen einzuschenken, und gehe in den hinteren Teil des Lokals, wo er ihr Handgelenk festhält. Als sie versucht aufzustehen, biegt sich ihr Arm wie ein Schnürsenkel, aber der Kerl lässt nicht los.
An ihrem anderen Handgelenk trägt sie ein Bettelarmband mit ein paar Anhängern: ein Adler, das Maskottchen einer hiesigen Schule, mit „1950“ darunter – was heißt, dass sie vor zwei Jahren ihren Abschluss gemacht hat. Ein Buch, also liest sie gerne. Ein Dackel. Ihr Haustier, nehme ich an, und der Grund für den Streit. Und ein Apfel. Sie mag also Äpfel … vielleicht. Ihr kurzes Leben gibt noch nicht genug her für viele Anhänger. Definitiv zu wenige, um den blauen Fleck zu verdecken.
»Ich glaube, die Lady möchte gehen«, sage ich zu ihm. Ich habe genug getrunken, um wie ein mieser Schlägertyp zu klingen. Vielleicht bin ich ja auch ein mieser Schlägertyp.
»Kümmer dich um deinen eigenen Kram, Kumpel«, sagt er. Er redet, als hätte er zu viele Gangsterfilme gesehen. Oder er versucht, genauso hart rüberzukommen wie ich.
»Möchten Sie gehen, Miss?«, frage ich und schaue an ihm vorbei.
»Hey, Mister, ich rede mit dir«, sagt der Junge. Ich sehe weiter das Mädchen an.
Sie nickt, sagt aber nichts. Also packe ich einen seiner Finger, ziehe ihn von ihrem Handgelenk weg und biege ihn so kräftig nach hinten, dass er vor Schmerz aufheult. Sie kann sich losreißen und rennt aus der Bar. Die kleine Glocke an der Tür bimmelt, als sie sich hinter ihr schließt.
»Leute, für so was ist es noch zu früh«, sagt der Barkeeper mit einem langen Seufzer.
»Ich habe nur der Lady geholfen«, erwidere ich, drehe dem Jungen den Rücken zu und gehe zurück zur Bar. Ich weiß, dass er mir hinterherkommen wird, also warte ich, bis ich ihn spüre, wirble herum und fange seine Faust ab, die meine Schulter trifft. Nicht sehr hart. Aber hart genug, dass ich scharf die Luft einziehe, woraufhin er lächelt, als hätte er irgendeinen Preis gewonnen.
Ich mag dieses Lächeln nicht. Es erinnert mich zu sehr an mein Spiegelbild. Also packe ich ihn am Handgelenk und drehe ihm den Arm um.
»Hey, Mann«, sagt der Junge, »fick dich.«
Er holt mit der anderen Faust aus, ich fange auch die ab und drehe ihm den Arm auf den Rücken, wo ich jetzt beide festhalte.
»Hey, das dürfen Sie nicht!«, sagt der Junge. Er blickt zum Barkeeper, der nicht von seinen Gläsern aufsieht. Der Junge starrt ihn an, während ich ihn zur Tür bugsiere, dann dreht er sich zu mir um:
»Sie trinken Martini? So früh schon? Das ist cool, Mann. Ich gebe Ihnen einen aus, und dann reden wir über die Sache.«
Ich verdrehe die Augen, stoße die Tür mit dem Fuß auf und werfe ihn raus. Er fällt mit dem Gesicht voran auf den Boden, aber ich weiß, dass er sich nur eine Schramme holen wird. Ich habe so was schon oft genug gemacht – früher.
Manchmal fühle ich mich besser, wenn ich jemandem helfe, so als hätte ich etwas Gutes zur Welt beigetragen. Aber heute nicht. Vielleicht auch besser so. Sonst überdenke ich womöglich noch meine Pläne.
Die Sonne knallt auf den Asphalt, wo der Junge liegt und mich anstarrt, als würde er drauf warten, dass ich etwas sage.
»Behandle Frauen in Zukunft gefälligst anständig«, verkünde ich laut genug, dass jemand von der anderen Straßenseite herüberschaut. Was Besseres fällt mir gerade nicht ein.
Ich habe Schluckauf. Dann grinse ich, weil ich ziemlich betrunken bin und es trotzdem geschafft habe, ihn rauszuschmeißen. Und weil drinnen der nächste Martini auf mich wartet.
»Du kannst mich mal«, sagt er, als er aufsteht. Er weiß selbst, wie schwach das klingt.
Ich drehe mich um und pralle gegen die Glastür der Bar, die hinter mir zugefallen ist. Mein heldenhafter Abgang ist ruiniert. Der Junge lacht.
Ich trete einen Schritt zurück, reibe mir über die Nase, öffne die Tür und gehe wieder hinein, während der Junge immer noch lacht.
Nachdem ich mich wieder an die Bar gesetzt habe, kippe ich den frischen Martini in einem Schluck hinunter. Der Barkeeper sieht mich an, als wäre ich der armseligste Anblick in ganz San Francisco, und vielleicht stimmt das sogar, aber ich versuche, mir das nicht anmerken zu lassen.
Ich recke das Kinn vor und bestelle noch einen, meine Stimme ist fest und stolz. Ich bin stolz darauf, an einem Montag um zwei Uhr mittags in dieser Bar zu sitzen. Und stolz darauf, einen Jungen rausgeworfen zu haben, auch wenn das nicht mehr mein Job ist. Mann, ich bin sogar stolz darauf, arbeitslos und aus dem Polizeidienst entlassen zu sein. Und ich bin stolz darauf, gerade meinen fünften Drink bestellt zu haben.
Wahrscheinlich kann ich niemandem etwas vormachen, aber ich versuche es trotzdem. Der Barkeeper hat mir den Rücken zugewandt, während er meinen Martini mixt, und falls er dabei das Gesicht verzieht, kann ich es nicht sehen.
Da die beiden Jugendlichen weg sind, ist auch sonst niemand da, der die Nase über mich rümpfen könnte. Ich trommle langsam mit den Fingern auf die Theke.
Ich habe Zeit – mein Plan ist folgender: den ganzen Tag trinken, damit ich, wenn es dunkel ist und niemand was bemerkt, besoffen genug bin, um mich in die Bucht zu stürzen.
Die Bucht ist der richtige Ort dafür. Dort wurde auch Jan Westman gefunden. Ich erinnere mich noch dran, wie ich sie am Stinson Beach habe liegen sehen. Da dachten wir noch, sie sei betrunken in die Bucht gefallen.
Sie sah friedlich aus. Hatte höchstens eine Nacht im Wasser gelegen. Ihre Haut war fahl, leicht bläulich.
Der alte Mann, der sie entdeckt hatte, hatte ihr die Augen zugedrückt und die örtliche Polizei verständigt, die wiederum uns angerufen hatte, nachdem Ausweispapiere bei ihr gefunden worden waren.
Der Alte hatte ihr auch die Arme über der Brust verschränkt. Lou fand es morbide, aber ich war der Meinung, dass sie entspannt aussah, mit dem, was mit ihr passiert war, im Reinen.
Ich war tatsächlich überrascht, als man keinen Alkohol in ihrem Blut fand und wir von einem Mord ausgehen mussten, schließlich den Kerl schnappten und herausfanden, was er ihr angetan hatte.
Wenn eine Nacht im Wasser Schock und Trauma wegwäscht und Tote so friedlich aussehen lässt, klappt es bei mir ja vielleicht auch.
Als sich die Tür der Bar öffnet, werde ich aus meinen Erinnerungen gerissen und starre wieder auf mein Glas, während Patti Page im Radio mit vom Rauschen gedämpfter Stimme »Tennessee Waltz« singt. Ich habe die Platte zu Hause.
Und frage mich, was wohl danach mit ihr geschehen wird, doch schon spült der Martini diesen Gedanken fort.
Ich mache mir nicht mal die Mühe, aufzuschauen, um zu sehen, wer reingekommen ist, bis sich die Frau neben mich setzt. Ihre Lippen sind knallrot geschminkt. Sie trägt einen gelben, wadenlangen Rock mit einer passenden Jacke, an der eine runde, mit schwarzen Steinen besetzte Brosche steckt.
Auf ihrem kurzen dunklen Haar (in ihrem Alter sicher gefärbt) sitzt ein kleiner Hut mit einer Nadel, darauf die Buchstaben WAC für den Women’s Athletic Club. Ihr Stil ist altmodisch, sieht aber nach High Society aus.
Ich habe schon viele Frauen wie sie gesehen, die das Geld wie eine Rüstung aus Gold vor dem Wandel schützt, den sie so sehr fürchten.
Sie zündet sich eine Zigarette an, die in einer Spitze steckt, und bestellt einen Manhattan. Ihre tiefe, kräftige Stimme dringt durch den Alkoholdunst in meinem Hirn. Sie wirkt wie aus einem Film entsprungen – als könnte sie mich gleich bitten, ihren Ehemann umzubringen.
Als sie sich auf dem Hocker zu mir dreht, spiele ich mit dem Gedanken, ihr zu sagen, dass sie bei mir an der falschen Adresse ist. Warum auch nicht?
Doch als ich aufschaue, macht sie mir keine schönen Augen. Sondern sieht mich eher an, als hätte sie Mitleid mit mir – einem kleinen Vogel, der aus dem Nest gefallen ist.
Ach, die kann mich mal. Ich bin vielleicht am Ende, was das Leben angeht, aber Mitleid brauche ich nicht. Ich habe das alles selbst so geplant.
Ich lächle sie an, in der Hoffnung, dass sie dann aufhört, mich so anzuschauen. Manchmal funktioniert das – ich bin ein gut aussehender Mann, und ein Lächeln wirkt beruhigend auf die Leute.
Doch seit vorgestern sitzt mein Lächeln irgendwie schief, auch diesmal, und sie scheint nicht sehr beeindruckt zu sein. Aber ich begreife, dass es nicht an mir liegt. Diese Frau lässt sich nicht so leicht beeindrucken.
Also wende ich mich von ihr ab und will sie ignorieren. Doch dann …
»Evander Mills?«, fragt sie, als der Barkeeper den Manhattan vor ihr abstellt. So wie sie es sagt, klingt es, als wäre das eine Frage, auf die sie die Antwort schon kennt. Ich habe den Eindruck, dass sie nur solche Fragen stellt.
»Woher wissen Sie, wie ich heiße?« Ich muss mich anstrengen, um nicht zu lallen.
Sie nippt an ihrem Drink, fischt die Kirsche heraus, legt sie auf den Tresen und sieht sie an, als hätte sie ihr etwas getan, und nicht, als wäre sie das Einzige, was ihren Drink versüßt.
»Ich weiß, warum Sie bei der Polizei rausgeflogen sind«, sagt sie, wobei sie weiter die Kirsche betrachtet.
Im beißenden Rauch ihrer Zigarette verflüchtigt sich der Alkoholnebel in meinem Hirn, während es mir eiskalt den Rücken herunterläuft. Ich stehe auf, weil ich sonst vom Hocker fallen würde.
Ich meide ihren Blick. Krame in meinem Mantel nach dem Portemonnaie, um zu bezahlen, aber sie legt eine behandschuhte Hand auf meinen Arm und drückt ihn.
»Keine Sorge«, sagt sie, »in meinen Augen ist das eine Empfehlung.«
Lavender House verbindet einen spannenden Krimi mit tiefgehenden Themen über Identität, Mut und Menschlichkeit. Die Figuren sind facettenreich, ihre Konflikte nachvollziehbar – unabhängig vom Alter. Für Jugendliche ein empowerndes Statement, für Erwachsene ein berührender Spiegel gesellschaftlicher Entwicklung.
💪🏼 Selbstbestimmung
Das Ringen um ein Leben, das nicht versteckt werden muss.
🔎 Perspektivwechsel
Wie queeres Leben in den 50ern aussah – realistisch und berührend.
🤐 Geheimnisse & Macht
Was passiert, wenn man lügt, um zu schützen – oder zu überleben?
Was ist ein Zuhause – ein Ort, ein Gefühl oder ein Mensch?
Wie viel von uns bleibt verborgen, weil wir Angst vor Konsequenzen haben?Welche Wahrheit sind wir bereit zu verbergen, um dazugehören zu dürfen?
Was bleibt von der Liebe, wenn man sie nie zeigen durfte?
Wem gehört Gerechtigkeit, wenn das System dich ausschließt?
💜 Mut zur Identität – das Buch zeigt, wie wichtig es ist, zu sich selbst zu stehen, egal, was die Gesellschaft denkt.
💜 Gemeinschaft & Zugehörigkeit – es geht um gewählte Familie, Vertrauen und den Wunsch nach einem Ort, an dem man sich sicher fühlen kann.
💜 Wahrheit & Erinnerung – die Frage, wem wir glauben und was wir bewahren wollen, zieht sich durch jede Figur.Leser*innen jeden Alters lernen, dass man sich manchmal selbst verlieren muss, um sich neu zu finden – und dass Liebe niemals ein Verbrechen sein darf.